Arteriogenese - Ein neues Konzept der Blutgefäßadaptation bei arteriellen Verschlusskrankheiten
Forschungsbericht (importiert) 2003 - Max-Planck-Institut für Herz- und Lungenforschung - W. G. Kerckhoff-Institut
Hintergrund
Infolge von atherosklerotischen Gefäßverengungen kommt es oftmals zu einer Minderdurchblutung (Ischämie) von Organen. Dieses Phänomen spiegelt sich beispielsweise in der koronaren Herzkrankheit (KHK) wider. Hier führen atherosklerotisch bedingte Verengungen der Herzkranzgefäße (Koronarstenosen) zur Ischämie des Herzmuskels. Klinisch kann sich dies als Angina pectoris, Myokardinfarkt oder Linksherzinsuffizienz, im peripheren Gefäßsystem in der peripheren arteriellen Verschlusskrankheit manifestieren. Die chronische Minderdurchblutung kann zu Gewebszerfall (Nekrosen) führen, was oftmals die Amputation der betroffenen Gliedmaße zur Folge hat. In der Todesursachenstatistik führen die arteriell bedingten Leiden weltweit, das heißt nicht nur in den Industrieländern, sondern auch in der Dritten Welt.
Der Körper besitzt jedoch das Potenzial, der dauerhaften Minderdurchblutung durch das Wachstum von überbrückenden Blutgefäßen entgegenzuwirken. Analog zu der in der Herzchirurgie verwendeten Terminologie könnte man diese Überbrückung mit dem Begriff "natürlicher Bypass" umschreiben. Die so genannten Kollateralgefäße gehen aus bereits angelegten, also präexistierenden arterio-arteriolaren Anastomosen (Verbindungen zwischen zwei Arterien) hervor, die im physiologischen Zustand nicht oder nur begrenzt an der Blutzirkulation beteiligt sind. Als Umschreibung für das Wachstum von Kollateralgefäßen hat sich in der jüngeren Vergangenheit der Begriff "Arteriogenese" etabliert.
Die Tatsache, dass Erkrankungen des Gefäßsystems in den westlichen Gesellschaften äußerst verbreitet sind, weist jedoch auf die Kernproblematik hin: Zwar ist das Potenzial zur Kompensation von stenosebedingten Durchblutungsdefiziten mittels der Arteriogenese prinzipiell bei jedem Individuum vorhanden, tatsächlich ist das Kollateralgefäßwachstum in den meisten Fällen aber nicht ausreichend, um ein beschwerdefreies Leben zu ermöglichen. Meist geschieht der arterielle Verschluss durch Thrombose zu schnell, wohingegen der Prozess der Arteriogenese mehrere Tage bis Wochen benötigt.
Ziel der Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für physiologische und klinische Forschung ist es deshalb, Mechanismen der Arteriogenese zu klären und mit den gewonnenen Erkenntnissen neue Therapieformen zu entwickeln.
Mechanismen der Arteriogenese
Mechanische Kräfte, die auf die Wand der Kollateralarteriolen wirken, sind wichtige Initiatoren der Arteriogenese. Im Tierversuch konnte am Hinterlauf von Kaninchen und Maus gezeigt werden, dass der experimentell induzierte Verschluss der Oberschenkelschlagader (Arteria femoralis) eine Veränderung der Blutdruckverteilung im Gefäßbett verursacht (Abb. 1). So kommt es zur Entstehung eines starken Druckgradienten zwischen den vor und den hinter dem Verschluss gelegenen Arterien, infolgedessen die Kollateralarteriolen nun durchblutet werden. Dadurch wirken auf die Wand dieser Gefäße starke mechanische Kräfte ein, neben der Schubspannung auch druckabhängige Kräfte. Es kommt zu einer Aktivierung des Gefäßendothels (der Zellschicht, die das Blutgefäß innen auskleidet), welches nun chemoattraktive Substanzen, wie zum Beispiel das Monozyten-Chemotaktische-Protein-1 (MCP-1), freisetzt und auf diese Weise Leukozyten anlockt. Gleichzeitig wird die Expression von Adhäsionsmolekülen an der Zelloberfläche gesteigert, die wiederum die Rekrutierung zirkulierender Blutzellen, vor allem der Monozyten, induziert. Die Prozesse führen zu einer Invasion der Gefäßwand durch die Blutmonozyten und zu ihrer Ansiedlung in tieferen Wandschichten und in wandnahen Gewebsabschnitten. Eingewanderte Monozyten differenzieren zu Makrophagen. Diese Zellen sind normalerweise an der Immunabwehr beteiligt, indem sie als Fresszellen Keime unschädlich machen. Im Zusammenhang mit der Arteriogenese tritt jedoch ihre Fähigkeit, verschiedenste wachstumsstimulierende Proteine freizusetzen, in den Vordergrund.
Proliferation der Zellen der Kollateralgefäßwand und Remodellierung
Als "Zytokin-Fabriken" produzieren und sezernieren die in der Gefäßwand beziehungsweise im perivaskulären Bereich akkumulierten Monozyten oder Makrophagen verschiedene Proteine, die üblicherweise an Entzündungsprozessen beteiligt sind. Zu diesen Zytokinen gehören verschiedene Gruppen wie Chemokine, Wachstumsfaktoren und Proteasen. Diese stimulieren die Vermehrung der glatten Gefäßmuskelzellen und Endothelzellen. Dabei ist bei den glatten Gefäßmuskelzellen eine Degeneration kontraktiler Elemente und eine verstärkte Ausprägung des Endoplasmatischen Retikulums zu beobachten, weshalb man von einem Übergang dieser Zellen vom kontraktilen in den Synthesetyp spricht. Darüber hinaus vermitteln Proteasen wie Matrix-Metalloproteinasen den Verdau extrazellulärer Wandkomponenten wie der Basalmembran und der Extrazellulärmatrix, sodass die Migration von Wandzellen ermöglicht wird. Die Folge ist eine Zunahme der Gefäßwandstärke sowie des Gefäßdurchmessers. Zunehmend treten die inflammatorischen Prozesse in den Hintergrund. Das wachsende Kollateralgefäß wird in der Reifungsphase durch eine neue "Lamina elastica" sowie Matrixproteine stabilisiert, die von den glatten Gefäßmuskelzellen gebildet werden.
Methoden zur Quantifizierung der Arteriogenese in Modellen für periphere Gefäßerkrankungen
Die Arbeitsgruppe um Wolfgang Schaper entwickelte ein "Hinterlaufs-Ischämie-Modell" in der Maus. Damit und durch die Verwendung transgener und gen-defizienter Mäuse sollte es möglich werden, den Einfluss der Über- und Unterexpression verschiedenster Gene auf die Arteriogenese zu untersuchen. Ein wichtiges Ziel bei der Entwicklung von Messverfahren im Mausmodell war es, diese nicht-invasiv zu gestalten. So wurden serielle Messungen ermöglicht, mit denen eine detaillierte Analyse des zeitlichen Verlaufs der Arteriogenese durchgeführt werden konnte. Als wichtigste Messmethode wurde das "Laser-Doppler-Imaging" etabliert, mit dem sequentiell die Wiederherstellung des Blutflusses im Gewebe unterhalb der Verschlussstelle (Unterschenkel beziehungsweise Fuß) quantifiziert werden kann. Dabei scannt ein Laserstrahl den Messbereich ab und ermittelt die relative Durchblutung des Fußes als Maß für die Leistung des proximalen kollateralen Netzwerks.
Weiterhin untersuchten die Forscher in verschiedenen Studien, inwieweit Training zu einer verstärkten Arteriogenese und damit zu einer Leistungssteigerung führt. Basierend auf der Annahme, dass die Stärke des Trainingseffekts mit der Durchblutungsleistung der Kollateralgefäße korreliert, wurden Mäuse auf einem eigens konstruierten Laufband trainiert. Als Endpunkt der Studie wurde der Zeitpunkt gemessen, an dem bei den Versuchstieren ein Erschöpfungszustand eintrat (Shawn Wagner, Frederic Pipp, Tibor Ziegelhöffer, Armin Helisch, Swen Wolfram, Wolfgang Schaper).
Untersuchung der Arteriogenese mittels Magnetresonanz-Tomographie
Shawn Wagner entwickelte mit Hilfe eines Tesla- Bruker-Pharmascan-Magnetresonanz-Tomographen (MRT) ein nicht-invasives Verfahren zur Blutflussmessung am Maushinterlauf. Zusätzlich wurden bestehende Angiographie-Verfahren optimiert (siehe Abb. 2). So wurde es möglich, basierend auf einer zweidimensionalen Bildgebungstechnik eine dreidimensionale Rekonstruktion zu entwickeln, mit der erstmals in der Maus Blutgefäße darstellbar wurden, deren Durchmesser kleiner als 100 Mikrometer war. Mittlerweile erstellen die Forscher routinemäßig in weniger als einer Stunde Abbildungen des Gefäßbettes im Hinterlauf.
Im Verlauf der Arteriogenese kommt es zu wichtigen Veränderungen des Stoffwechsels im blutleeren Muskel. Diese wurden mittels Kernmagnetresonanz-Spektroskopie (NMR) untersucht. Die energiereichen Phosphate Phosphokreatin (PKr) und Adenosintriphosphat (ATP) fungieren als Energiespeichermoleküle. Sie befinden sich normalerweise im Gleichgewicht mit Kreatin. Wenn ATP verbraucht wird, wird PKr zu Kreatin abgebaut. Dabei wird ein Phosphatrest auf Adenosindiphosphat (ADP) übertragen, um so die ATP-Konzentration konstant zu halten. Mittels NMR-Spektroskopie wurden die Spiegel von PKr, ATP und anorganischem Phosphat im ischämischen Muskel gemessen. Mittlerweile wurde die Technik so fortentwickelt, dass der Stoffwechselumsatz direkt gemessen werden kann.
Ein wesentlicher Eckpunkt der Arbeiten war die Entwicklung neuer Spulen für die Magnetresonanztomographie. Es wurde unter anderem eine Spule konstruiert, die speziell auf die Größe kleiner Versuchstiere adaptiert war. Dadurch erzielen die Forscher eine wesentliche Verstärkung der Signale mit verbesserter Unterdrückung des Hintergrundrauschens.
Die Rolle zirkulierender Monozyten bei der Arteriogenese
In einer Reihe von Studien wurde die Akkumulation von Monozyten in der Wand wachsender Kollateralgefäße beschrieben. Unklar war der Ursprung dieser Zellen. In diesem Projekt der Arbeitsgruppe von Wolfgang Schaper sollte untersucht werden, welche Rolle die im Blutkreislauf zirkulierenden Monozyten bei der Arteriogenese spielen. Aus diesem Grund verfolgten die Wissenschaftler experimentelle Ansätze, bei denen die Monozyten entweder aus dem Blut eliminiert oder ihre Konzentration erhöht werden sollten. Dazu wurden Mäuse mit dem Zytostatikum 5-Fluoro-Uracil (5-FU) behandelt. In der behandelten Gruppe kam es nach weniger als fünf Tagen zu einer Entleerung (Depletion) der Monozyten aus dem Blut, nach zwei Wochen stellte sich ein "Rebound" ein, wodurch die Monozytenkonzentration im Blut mehrfach gegenüber dem Normalwert erhöht war. In der Gruppe mit Monozytendepletion war die Wiederherstellung des Blutflusses nach Ligatur der Oberschenkelarterie als Maß der Arteriogenese im Vergleich zur Kontrollgruppe signifikant verringert, während sie in der Rebound-Gruppe erhöht war. Zur Absicherung der Daten wurde zusätzlich in einer Versuchsgruppe die Monozytendepletion durch die Injektion von aus Spendermäusen isolierten Monozyten ausgeglichen. Auf diese Weise konnte das defizitäre Kollateralgefäßwachstum der Monozyten-depletierten Gruppe mehr als ausgeglichen werden. Die im Rahmen dieser Studie gewonnen Daten ermöglichten es erstmals, einen funktionellen Zusammenhang zwischen der Konzentration der Monozyten im peripheren Blut und dem Maß des Wachstums von Kollateralgefäßen unter tierexperimentellen Bedingungen zu belegen (Abb. 3)(Matthias Heil, Tibor Ziegelhöffer, Sandra Martin, Frederic Pipp, Wolfgang Schaper).
Verminderung der Arteriogenese bei CCR2-defizienten Mäusen
Ziel dieser Studie war die Aufklärung des Mechanismus, über den die chemotaktische Anlockung der Monozyten während der frühen Phase des Kollateralgefäßwachstums vermittelt wird. In früheren Arbeiten konnte gezeigt werden, dass durch die lokale Infusion von MCP-1 eine Verstärkung der Arteriogenese möglich wird. Der CC-Chemokin-Rezeptor-2 (CCR2), bei dem es sich um ein Mitglied einer Gruppe strukturell verwandter Rezeptoren, die in die Zellmembran integriert sind, handelt, wurde als der wichtigste Rezeptor für MCP-1 beschrieben. Darüber hinaus binden wahrscheinlich noch weitere MCPs an den CCR2. Bei einer Reihe von Erkrankungen wurde für den CCR2 eine wesentliche Rolle im Zusammenhang mit der Attraktion, Adhäsion und Invasion von Monozyten beschrieben.
Die Wissenschaftler untersuchten deshalb CCR2-gen-defiziente (CCR2-/-) Mäuse im Hinterlaufs-Ischämie-Modell, um die Rolle des CCR2 an der Monozytenmigration während der frühen Phase der Arteriogenese zu untersuchen.
Mittels Laser-Doppler-Imaging und MRT-Messungen konnten sie feststellen, dass im Vergleich zur Kontrollgruppe bei CCR2-/- Mäusen die Wiederherstellung des Blutflusses nach der Ligatur der Femoralarterie massiv reduziert war. Um sicherzustellen, dass diese funktionellen Daten tatsächlich auf schlechteres Kollateralgefäßwachstum zurückzuführen waren, wurde eine morphometrische Analyse der Kollateralarterien in der Oberschenkelmuskulatur durchgeführt. Dabei stellten die Wissenschaftler fest, dass der Durchmesser der Kollateralgefäße bei CCR2-/- Mäusen gegenüber der Kontrollgruppe signifikant reduziert war. Um auszuschließen, dass die beobachteten Effekte auf einem Monozyten-unabhängigen Mechanismus basieren, quantifizierten sie abschließend die Akkumulation von Monozyten beziehungsweise Makrophagen im perivaskulären Bereich um die Kollateralgefäße. Es konnte hierbei eine signifikant niedrigere Zahl an Monozyten um die Gefäße von CCR2-/- Mäusen gezeigt werden. Zusammenfassend wurde mit dieser Studie nachgewiesen, dass dem CCR2 eine wesentliche Rolle bei der Migration von Monozyten während der Arteriogenese zukommt. Da aber das Wachstum der Kollateralgefäße bei CCR2-/- Mäusen nicht vollständig zum Erliegen kommt, gibt es wahrscheinlich Reservepfade, mit deren Hilfe die durch die CCR2-Defizienz bedingte Wachstumsreduktion teilweise kompensiert werden kann.
(Matthias Heil, Tibor Ziegelhöffer, Sandra Martin, Borja Fernández, Wolfgang Schaper)
Welche Faktoren spielen bei der Arteriogenese eine Rolle?
Das Hinterlaufs-Ischämie-Modell der Maus gibt der Forschergruppe die Möglichkeit, verschiedenste Faktoren auf ihre Beteiligung an der Arteriogenese zu untersuchen. Hierzu bietet sich neben der Verwendung von transgenen beziehungsweise gen-defizienten Mäusen auch das Testen von Substanzen im Tierversuch an.
Einen wesentlichen "Faktor" stellt der genetische Hintergrund der verwendeten Versuchstiere dar. Armin Helisch, Shawn Wagner und Dimitri Scholz konnten zeigen, dass im C57BL/6-Stamm die Wiederherstellung des Blutflusses nach Femoralligatur im Vergleich zu BALB/c-Tieren wesentlich schneller und stärker erfolgt. In postmortem-Angiographien wurden Hinweise darauf gefunden, dass die Ursache zumindest zum Teil auf ein besser entwickeltes präexistierendes kollaterales Netzwerk bei den C57/BL6-Tieren zurückzuführen ist.
Eine Vielzahl von Arbeitsgruppen erforscht derzeit weltweit, ob durch eine Therapie mit Wachstumsfaktoren eine Stimulierung des Kollateralgefäßwachstums zu erzielen ist. Sven Wolfram und Borja Fernández untersuchten an Mäusen, in denen der Fibroblastenwachstumsfaktor-2 (FGF-2) überexprimiert wurde, ob FGF-2 sich positiv auf die Arteriogenese auswirkt. Besonders wurde dabei auf Zusammenhänge mit Trainingseffekten geachtet, die durch Versuche am Laufband erzielt wurden. Die Wissenschaftler konnten zeigen, dass Training die Arteriogenese in FGF-2-Überexpressionsmäusen verstärkt, was wahrscheinlich auf eine Beschleunigung der Glykolyse zurückzuführen ist.
Für TNF-α wurde eine verstärkte Expression in Zusammenhang mit inflammatorischen Prozessen gezeigt. Aus diesem Grund untersuchten Helisch und Wagner den Einfluss von TNF-α auf die Arteriogenese mittels TNF-αβ-, TNF-Rezeptor-1- und TNF-Rezeptor-2- gendefizienten Mäusen. Überraschenderweise wurde bei keinem dieser Tierstämme eine Reduktion der Arteriogenese festgestellt. Dies bedeutet, dass entweder TNF-α höchstens eine sekundäre Rolle bei der Arteriogenese spielt oder dass Kompensationsmechanismen aktiv sind (Armin Helisch, Borja Fernández, Tibor Ziegelhöffer, Matthias Heil, Sven Wolfram, Dimitri Scholz, Shawn Wagner, Wolfgang Schaper).